Wo beginnt die Heimat?

Nika Dubrovsky, Оlga Michaels, Vera Kravchik, Yana Smetanina, Anastasia Khoroshilova, Ludmila Ivakina, sowie Valeria Lutz, Rosa Schott, Klara Gibert, Georg Jancke, Olga Ziegler, Valentina Schmidt, Elvira Schmidt, Viktor Schwabauer , Galina, Schwabauer, Waldemar Günther, Selma Miller, Nelia Scherban, Emma Juzko, Alvina Brauer, Emma Dietrich, Wladimir Luzik 

All diese Momente verlieren sich in der Zeit.

Hätte ich doch nur das gesehen, was ich mit deinen Augen sah.
Aus dem Film „Blade Runner“ von Ridley Scott:

Seit fast einem Jahr lang arbeiten wir, eine Gruppe von Künstlerinnen und KunsttherapeutInnen, SozialarbeiterInnen und ForscherInnen, an unserem Projekt „Erinnerung und Vergessen, Ungerechtigkeit und Hoffnung“.

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Das Herz dieses Projektes sind zahlreiche Begegnungen mit älteren Russlanddeutschen, sogenannten Spätaussiedlern aus der ehemaligen Sowjetunion, die in ihre historische Heimat Deutschland zurückgekehrt sind.

 

Wir trafen uns bei Tee und Kuchen, diskutierten, sprachen über Vergangenes und Zukünftiges. Gemeinsam mit den Workshop-Teilnehmern zeichneten und malten wir, schrieben Gedichte und lasen sie einander vor. Wir erzählte uns Geschichten aus der Kindheit und vertrauten uns unsere Träume und Wünsche für die Zukunft an. Wir sprachen über Themen wie Gerechtigkeit, Liebe und Leiden, erzählten uns gegenseitig unsre schlimmsten Ängste, sprachen über den Verlust geliebter Menschen. Wir diskutierten darüber, was Heimat ist und was Nationalität bedeutet, was es heißt, ein Zugehörigkeitsgefühl zu haben oder Hoffnung darauf; darüber, wie es ist, eine fremde Sprache zu lernen, und was uns allen Muttersprache bedeutet. Und alles haben wir sorgsam dokumentiert, jeden einzelen Schritt unserer gemeinsamen Untersuchung, die ganze Entwicklung unseres Kennenlernens. Wir haben viele unserer Gespräche per Video aufgezeichnet und Porträt-Fotos inszeniert, und nach den Zusammenkünften mit Tee und Kuchen gab es Hausaufgaben: Nachforschungen, Diskussionen, Sammeln von Archivdokumenten, Lesen. Beständig wurde recherchiert und kommuniziert.

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Am Anfang des Projektes standen Nika Dubrovsky „Tischdecken“, ein offenes kreatives Collage-Objekt, das von allen Kursteilnehmern in gemeinsamer Arbeit und Auseinandersetzung weiterentwickelt wurde. Zusammen arbeiteten wir daran, ein Werk zu schaffen, das ein Prozess sein soll, nicht eine Tatsache, kein materieller oder dokumentarischer Gegenstand, sondern etwas, dass eine lebendige menschliche Beziehung erzeugt und ausdrückt.

Die „Tischdecken“ sind vier riesige Papiercollage-Tischtücher, die den großen Tisch, um den herum die Zusammenkünfte stattfanden, vollkommen bedeckten. Sie bestehen aus Fotografien, historischen Dokumenten, Tagebuchaufzeichnungen, persönlichen Notizen und anderen Arten von Texten, Zeichnungen, allen möglichen graphischen Elementen, aus den unterschiedlichsten Materialien, die die Sozialarbeiterin Vera Kravchik aus den Familienarchiven älterer deutscher Siedler zusammengetragen hat. Zwischen all diesen Elementen liegen immer wieder große Freiflächen. Dieser freie Raum ist das Wichtigste. In diesen Freiraum hinein zeichneten und schrieben die Kursteilnehmer zusammen mit der Kunsttherapeutin Olga Michaels und der Künstlerin Jana Smetanina und entwickelten so einen neuen Raum des kollektiven Gedächtnises .

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Es war uns wichtig, dass die Begegnungen auf Augenhöhe stattfanden. Die Aufgabe der „Kursleiter“ bestand lediglich darin, die Teilnehmer zu unterstützen und zu betreuen, nicht darin, sie zu belehren, zu unterrichten oder zu überwachen. Die Kursleiter wollten Mit- Teilnehmer sein, Dialogpartner, Gesprächs-Archivare und Mit-Künstler in einem kollektiven Kunstprojekt.

 

Aus Porträts der Workshop-Teilnehmer erstellte die Fotografin Anastasia Khoroschilov eine Serie von Videoprojektionen, die als das Werk einer Archivarin und Visionärin interpretiert werden können. Mit der Akribie einer Hof-Fotografin schaut Anastasia Khoroschilov in die Gesichter der betagten Spätaussiedler und erkennt in ihrer Haltung, ihrer Mimik einen Adel, auf den Könige stolz sein könnten. Anastasia Khoroschilov hat ihre Arbeiten mit kleinen dokumentarischen Anmerkungen versehen, die sie den Gesprächen mit den Kursteilnehmern entnommen hat.

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Die in der Ausstellung gezeigten Kunstobjekte stehen mit den Kursteilnehmern im Dialog. Jana Smetaninas „Servietten“ stellen eine Antwort auf die in Nika Dubrovsky „Tischdecken“ eröffnete Initiative dar. Die Moskauer Künstlerin Jana Smetanina erforscht in ihren Arbeiten seit langem die Grenze zwischen privatem und öffentlichem Raum und schafft Werke in der Sphäre zwischen künstlerischer Meisterschaft und Tagebucheinträgen.

Für Jana Smetanina ist die Teilnahme an diesem Projekt ein persönliches Anliegen, weil sie selber aus einer russlanddeutschen Familie stammt. Ihre graphische Erinnerungs-Landkarte besteht aus einer Serie von Schwarz-weiß-Graphiken auf durchbrochenen runden Servietten, wie sie in kleinen Restaurants und Gaststätten verwendet werden, die Jana Smetanina mit Anmerkungen versehen hat, die uns auf handschriftliche Tagebucheinträge, Träume und persönliche Beichten verweisen.

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Die Fotografien aus Jana Smetaninas persönlichem Archiv und die Erzählungen ihrer Familienangehörigen könnten Teil eines Gesamt-Archivs der russlanddeutschen Aussiedler sein. Auch ihre Familie hat, wie die Familien der meisten Russlanddeutschen, Umsiedlung und Entwurzelung, Zwangsarbeit und Repression erlebt. Auch sie ist, wie die anderen Kursteilnehmer, nach Deutschland ausgesiedelt, um ein neues, frei gestaltetes Leben in ihrer neuen (und/oder historischen) Heimat zu beginnen. Jana Smetaninas kleine Servietten scheinen mit den riesigen kollektiven „Tischtüchern“ zu kommunizieren, mit denen das Projekt anfing.

Beide Künstler arbeiten mit Dingen des täglichen Bedarfs, mit Haushaltsgegenständen, Tischdecken, Vorhängen, Servietten, Körperpflegeartikeln, sehr persönlichen und sehr weiblichen Dingen.

Im Unterschied zu den Readymades der Pop Art-Künstler geht es ihnen nicht darum, die industrielle Massenproduktion von Banalitäten zu sakralisieren, indem sie sie aus dem kommerziellen und industriellen Umfeld in den Raum der Kunst verlagern. Im Gegenteil: Ihre Objekte greifen die Idee des Readymade auf und verarbeiten individuelle Readymades sorgsam zu einzigartigen und nicht wiederholbaren Werken. Genau so verhält es ich mit den Erzählungen und Erinnerungen der Kurseilnehmer und mit den Beziehungen, die sich in der Gruppe entwickelt haben.

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Nach dem Vorbild der „Tischdecken“ schuf Nika Dubrovsky für die Ausstellung neue Collage-Objekte, die „Vorhänge“, monumentale, 2,5 Meter lange Leinwände, auf denen sie Texte und Fotos, die von den Workshop-Teilnehmern übermalt und beschrieben wurden, verarbeitete. Sie sind der Versuch, den eigentümlichen Raum zu erspüren, der an der Grenze eines in seine Erinnerung eingeschlossenen Soziums und dem größeren Raum der Stadt und des sie umgebenden Landes entsteht, das direkt vor den Fenstern des Raumes beginnt, in dem unsere Zusammenkünfte stattfanden.

Es existiert kein objektives Kriterium, um zu beurteilen, ob uns das geglückt ist. Aber der Anfang ist gemacht, und wir befinden uns auf einem guten Weg. Wir wollen das Projekt unbedingt fortsetzen, die Ausstellung und die Diskussionsrunden in neue Räume zu verlegen.

Unsere Ausstellung ist ein Versuch, gemeinsame Eindrücke miteinander zu teilen, die an der Schnittstelle zwischen zeitgenössischer Kunst, therapeutischen Praktiken, akademischer Forschung, persönlichen Erinnerungen und, vor allem, aus dem Dialog zwischen den Teilnehmern entstanden sind.

Das Objekt „Vorhänge“ ist eine gemeinsame Geste aller Kursteilnehmer an die „große Welt“. Das Distanzierte und Dokumentarische der erzeugten Visualisierungen korrespondiert dabei mit fast sentimentalen Gestaltungstechniken. All die verstreuten Geschichten und Erinnerungsfetzen der Kursteilnehmer sammelt Nika Dubrovsky ein und wandelt sie in eine große, zusammenhängende visuelle Erzählung um. Die „Vorhänge“ befinden sich an der Grenze des privaten Territoriums, der persönlichen Erinnerungen und des intimen Archivs, des Narrativs des Häuslichen, Fürsorglichen und Weiblichen, aber sie überschreiten diese Grenze und treten hinaus in den „männlichen“ Raum der Straße, der Hausfassaden, des öffentlichen Diskurses. Sie manifestieren die Bedeutsamkeit der Begegnungen im privaten Raum, die Wichtigkeit des Erzählten und Gehörten, die Notwendigkeit, das Geschehene festzuhalten und weiterzutragen.

Das Objekt „Vorhänge“ ist auch eine Geste an die Bewohner des Bezirks, der Stadt und des ganzen Landes. Einer der Workshop-Teilnehmer sagte einmal den bemerkenswerten Satz: „Wir würden ihnen ja gern erzählen, aber wer möchte uns denn zuhören?“ Dieser Satz kommuniziert in sonderbarer Weise mit einer Bemerkung aus dem Film „Blade Runner“ von Ridley Scott:

All diese Momente verlieren sich in der Zeit.

Hätte ich doch nur das gesehen, was ich mit deinen Augen sah.

Aus dem Russischen von Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann

Projekt wurde in Zusammenarbeit mit der DIAKONIEWERK SIMEON gGmbH durchgeführt. https://www.diakoniewerk-simeon.de/Gefördert durch die Berliner Senatsverwaltung für Integration und Soziales.